Buchtipp: Fliehen in zu großen Schuhen

Graphic Novel “9.603 Kilometer”: Tagsüber gibt der zwölfjährige Adil sich tapfer, nachts hat er Albträume von der Flucht.

Beitragsbild: © Zeichnung: Cyrille Pomès / Cross Cult

“9.603 Kilometer” begleitet in packendem Comic-Stil zwei Kinder auf ihrem langen und bitteren Weg von Afghanistan nach England.

Von Nina Apin

Adils Kindheit endet im Spätsommer 2014. Als sein Vater beim Ziegenhüten an einem Herzanfall stirbt, nehmen die Dinge einen Lauf, wie er im ländlichen Südosten Afghanistans üblich ist: Seine Mutter muss den Schwager heiraten, Adil wird als ältester Sohn in ein Koraninternat geschickt. Dort bilden Fanatiker kleine Jungen zu “Soldaten Allahs” aus. Der Zwölfjährige wird auserkoren, als Selbstmordattentäter eine lokale Polizeiwache in die Luft zu sprengen. Als es schiefgeht, steht fest: Adils Familie muss außer Landes, denn der Onkel und seine Islamistenfreunde werden nicht aufgeben, bis sie sich an allen gerächt haben. Adil und sein 14-jähriger Cousin Shafi sollen nach England zu einem Verwandten, damit wenigstens sie eine Zukunft haben – fernab des Wahnsinns, der das Land am Hindukusch im Griff hat.

Vor den Toren Europas

“9.603 Kilometer. Zwei Kinder auf der Flucht” heißt die Graphic Novel des französischen Autorenduos Stéphane Marchetti (Text) und Cyrille Pomès (Zeichnungen). In düstere Braun-, Grau- und Grüntöne gefärbt und in Bildrahmen mit sparsamen Textelementen zerlegt, wird eine herzzerreißende Geschichte erzählt, wie sie sich jeden Tag vor den Toren Europas abspielt. Adil und Shafi werden von Schleusern über den Hindukusch nach Pakistan gebracht, im Treck laufen sie zu Fuß durch den Iran in die Türkei und freunden sich mit dem älteren Daoud an, der bereits zum dritten Mal sein Glück auf der Route versucht. Je näher die Flüchtenden Europa kommen, desto brutaler werden die Schleuser, desto rarer werden Wasser, Nahrung und halbwegs humane Schlafplätze. An der griechisch-mazedonischen Grenze sitzen die Kinder fest, die Grenzpolizei lässt nur Familien durch. Schließlich stürmen sie unter Beschuss die Grenzbefestigung. In den Wäldern von Nordmazedonien werden sie überfallen und all ihrer Habseligkeiten beraubt, in Ungarn zeitweise getrennt.

Adil mit den stets zu großen Schuhen verkündet zwar an einer Stelle: “Ich bin Paschtune, ich hab vor nichts Angst!” Doch kommen den Reisegefährten im Lauf der Flucht zunehmend die Worte abhanden, es dominieren reduzierte, in harten Kontrasten gehaltene Bilder. Im berüchtigten “Dschungel” von Calais illustriert viel Schwarz die Verzweiflung der Kinder, die vergebens auf Einreisepapiere nach England warten. Zermürbt von Hunger, Kälte und Perspektivlosigkeit springen Adil und Shafi schließlich auf einen LKW, der durch den Tunnel nach England fährt.

Die expressiven Bilder und die schnell ineinander geschnittenen Alltagsszenen lassen einen die Flucht aus Kinderaugen erleben. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die besonders prekäre Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und die fortwährende Missachtung der Kinderrechte, die Jungen wie Adil in ihren Herkunftsländern und an den EU-Außengrenzen erleben.

Stéphane Marchetti, Cyrille Pomès: 9.603 Kilometer: Zwei Kinder auf der Flucht. Cross Cult, Ludwigsburg 2023, 128 Seiten, 30 Euro.